Manfred Grob

Kantor und Organist

Otto Heinermann - sein Leben.

Otto Heinermann wurde am 21. Juni 1887 als siebtes von zehn Kindern in Soest blind geboren. Seine Eltern waren Heinrich und Marie Heinermann, geborene Schrick. Die Eltern, von deren Kindern fünf blind und fünf sehend geboren wurden, zogen nach Soest wegen der dortigen Blindenanstalt.

Hier besuchte Heinermann von April 1894 bis April 1903 die Deutsche Provinzialblindenanstalt. In der Bescheinigung dieser Anstalt wurde ihm die besondere Begabung im Fach Musik bestätigt.

Im Anschluss begann er mit dem Studium am Dortmunder Konservatorium, wo ihn Carl Holtschneider (Orgel), Willy Eickemeyer (Klavier) und Max Weidert (Theorie) unterrichteten. Den Weg von Barop nach Dortmund legte er täglich zu Fuß zurück, was für einen Blinden eine erstaunliche Leistung bedeutete.

Jedes Stück lernte er nach Blindenschrift auswendig. Bereits im selben Jahr (1903) wurde im Rahmen öffentlicher Vortrags-abende des Konservatoriums „das wirklich gediegene Klavierspiel des blinden Eleven Heinermann“ gerühmt. 1907 machte er bereits als Komponist mit dem Vortrag einer Sonate zu vier Sätzen (nicht auffindbar) von sich reden.

Im April 1909 begann er seine Tätigkeit als Organist an der Paulus-kirche zu Dortmund, wo er bis zu ihrer Zerstörung, im Jahr 1944, blieb.

Bereits 1910 fand in Dortmund das erste Regerfest (7.-9. Mai) statt, zu dem Max Reger bereits am 2. Mai nach Dortmund reiste und auch das Konservatorium besuchte. Diese Chance nutzte Willy Eickemeyer und stellte ihm seinen Schüler O. Heinermann vor, der ihm seine Quadrupelfuge (nicht auffindbar) vorspielte.

Am 19. Mai schrieb Reger in einem Brief aus Leipzig:

„Herr Heinermann hat mir eine Fuge eigener Komposition vorgespielt und sowohl als Komponist als auch als Klavierspieler meinen vollsten Beifall gefunden. Er ist ein Komponist von sehr schöner Erfindung und ein sehr tüchtiger Pianist.“

Auf später eingesandte Kompositionen schrieb Reger am 9. September 1913 aus Kolberg folgenden Brief:
„Anbei sende ich Ihnen eingeschrieben Ihre Komposition zurück. Dieselben haben mir einen sehr guten Eindruck gemacht. Wenn Sie auf diesem Wege weiter fortfahren, werden Sie sicherlich noch sehr schöne Resultate erzielen.“

1912 nahm die langjährige Freundschaft zu Gerard Bunk (Organist an der Reinoldikirche zu Dortmund) ihren Anfang. Seit dieser Zeit fanden sich häufig Heinermanns Orgelwerke auf den Programmen der Orgelkonzerte Bunks und umgekehrt.

1917 wurde Heinermann an das Holtschneider-Konservatorium berufen. Dort unterrichtete er Klavier und Orgel.

1918 heiratete er Käthe Erbs, die aber schon 1942 verstarb.

Im Jahr 1922 fand vom 29. April bis zum 1. Mai ein Bachfest in Dortmund statt, in  dessen Eröffnungskonzert Heinermann die Orgel spielte.

Im selben Jahr veranstaltete er in der Pauluskirche zu Dortmund seinen vielleicht ersten Kompositionsabend unter Mitwirkung von Carl Holtschneider u.a., an dem ausschließlich eigene Kompositionen zu Gehör gebracht wurden.

Zwei Jahre später wurde am Holtschneider-Konservatorium eine neue Seminarklasse zur Vorbereitung auf das Staatsexamen eingerichtet, hier wurde Heinermann für die Fächer Orgel, Klavier und Kontrapunkt verpflichtet.

1925 wurde die Dortmunder Kirchenmusikschule von Pfarrer Karl Glebe und Carl Holtschneider gegründet. Sie war gekoppelt an das städtische Konser-vatorium. Die ersten Lehrer, hauptsächlich für das Fach Orgel zuständig, waren Gerard Bunk, Otto Heinermann und Siegfried Gerdes.

1926 erschien der erste Teil der Choralvorspiele zum DEG, fünf Jahre später die kurzen, leichten Einleitungen zum Evangelischen Gesangbuch für Rheinland und Westfalen.

1936 wurden Gerard Bunk und Otto Heinermann gleichzeitig zu Kirchen-musikdirektoren ernannt. Aus diesem Anlass, der mit dem 10jährigen Bestehen der Kirchenmusikschule zusammenfiel, veranstaltete man am 25. Oktober 1936 ein Konzert in der Reinoldikirche, in dem nur Bunks und Heinermanns Kompositionen zu Gehör gebracht wurden.

Ende 1944, nach Zerstörung der Pauluskirche und des Konservatoriums-gebäudes, fehlte Heinermann jede Arbeitsmöglichkeit. So ging er mit seiner ehemaligen Schülerin, Wilhelmine Hünerbein, die ihm schon damals die Noten schrieb, nach Köslin (Pommern), um dort eine Kantorenstelle zu übernehmen. Bereits im März 1945 mussten sie vor den russischen Truppen fliehen und kamen nach Lienen im Kreis Tecklenburg. Hier unterrichtete Heinermann 30 Schüler und leitete einen Kirchenchor.

Im Mai 1945 heiratete er Wilhelmine Hünerbein und im Oktober 1948 kehrten beide wieder nach Dortmund zurück. Hier erhielt Heinermann die Chorleiter- und Organistenstelle an St. Marien, für die er 100,- DM monatlich bekam.

Im Oktober 1949 begann er seine Tätigkeit an der wiedereingerichteten Kirchenmusikschule. Dies währte bis 1963. In diesem Jahr wurde die Kirchenmusikschule wieder an das Konservatorium angegliedert und Heinermann, der bereits 76 Jahre alt war, wurde nicht mehr übernommen.

Anlässlich der Westfälischen Kirchenmusikstage in Hagen (1954) komponierte er die Kantate „O Durchbrecher aller Bande“ für Sologesang, Chor, Bläser, Pauken und Orgel.

Zwei Jahre später schrieb er ein Bläserkonzert für sechs Posaunen, das zur Eröffnung des deutschen evangelischen Posaunen-tages in Dortmund uraufgeführt wurde, heute aber leider nicht mehr auffindbar ist.

1956 gab er die Leitung des Kirchenchores der Marienkirche ab.

1957 fand zu Heinermanns 70. Geburtstag die 504. Kirchenmusik in der Reinoldikirche unter der Leitung von Gerard Bunk statt, in der ausschließlich Heinermanns Kompositionen gespielt wurden.

Anlässlich seines 50jährigen Dienstjubiläums als Organist in Dortmund wurde ihm 1959 vom Bundespräsidenten das Bundes-verdienstkreuz verliehen.

Zur Eröffnung des 11. Deutschen Evangelischen Kirchentags in Dortmund (1963) wurde seine Bläserintrade „Sonne der Gerechtigkeit“ für drei Trompeten, zwei Posaunen und Pauken uraufgeführt.

Im selben Jahr erschien die dritte Auflage des Choralbuches zum RWG, dem seine kurzen, leichten Einleitungen beigegeben wurden.

1965 starb seine zweite Frau Wilhelmine, die bisher seine Noten geschrieben hatte, andere Orgelkompositionen in Blinden-schrift übertrug, ihn beim Theorieunterricht im Konservatorium unterstütze und ihm alle weiteren Pflichten des Alltags abnahm, die er als Blinder nur schwerlich erledigen konnte.

Am 2. Advent 1967 konnte die neue Orgel in St. Marien eingeweiht werden, an deren Disposition Heinermann maßgeblich beteilig war.

Erst 1968 trat er in den Ruhestand und gab sein Organistenamt im Alter von 80 Jahren ab.

1975 zog er in ein Blindenheim in Meschede, wo er im Alter von fast 90 Jahren, am 21. Mai 1977 starb.

Die Zahl seiner Schüler war groß. Dazu gehören Otto Brodde und sein wohl berühmtester Schüler Siegfried Reda, der über seinen Lehrer schrieb:
„…. mein Mentor und Lehrer, Otto Heinermann, eine wunderbare Persönlichkeit, hat mir durch sein Vorbild und durch seine Sicht von den Dingen Einstellungen und ein Selbstverständnis vermittelt, die mir bis zum heutigen Tage in gewisser Weise gültig sind.“

Groß war auch die Anerkennung, die ihm sein Freund und Kollege Gerard Bunk zollte, in dem er häufig seine Kompositionen spielte und ihm in seinem Zyklus „Meisterwerke der Orgelkunst von Sweelinck bis zur Gegenwart“ ein ganzes Konzert (Nr. 52) widmete. In seinem Buch „Liebe zur Orgel“ schreibt er:

„In diesem geplanten Zyklus wollte ich der Reihe nach alles das spielen, was meinen Augen wertvoll erschienen war. Nur das wirklich Wertvolle sollte darin aufgenommen werden, denn, das darf ich vielleicht sagen, ein „Konjunktur-Spieler“ bin ich nie gewesen, zumal es mir widerstrebte, Sachen einzustudieren und aufs Programm zu setzten, bei denen ich nicht ganz dahinterstand.“

Zu erwähnen sind auch die vielen Klavierkonzerte, die er im Rahmen „Konzerte Blinder Künstler“ gab.

Mehrfach vertrat er auch Gerard Bunk in seinen Orgelfeierstunden in der Reinoldikirche und des öfteren spielte er in der Synagoge in Dortmund-Mitte (zerstört 1938), an der zeitweise Carl Holtschneider als Organist tätig war. Zu welchem Anlass er dort spielte, ist leider nicht bekannt.

Eine Freundschaft verband ihn auch mit Oskar Söhngen, mit dem er regen Briefverkehr pflegte. Er sandte ihm des öfteren Kompositionen und widmete ihm seine Kantate „O Durchbrecher aller Band“. Sie kannten sich vermutlich aus der Zeit des Aufbaus der Kirchenmusikschule.

Heinermann war Mitglied der Freimaurerloge „Schlaraffia“, für die er einige Kompositionen schrieb, die leider auch nicht mehr auffindbar sind.

Zeitweise leitete er die Kirchenchöre in St. Marien, Paulus, Schüren und den synodalen Heinrich-Schütz-Kreis Dortmund, was aufgrund seiner Behinderung kein leichtes Unterfangen war.

1987 fand in Gedenken an Heinermanns 100. Geburtstag ein Konzert in der Marienkirche unter Leitung von Dieter Strohmann und Jutta Timpe statt.

(Zur Verfügung gestellt und mit freundlicher Genehmigung von Frau Kantorin Ulrike Fremdt-Schäfer)


Otto Heinermann:
„Ich sage aber nein, wenn man mir kommt mit der Aufhebung des Dualismus: Konsonanz, Dissonanz, der Negierung des Unterschiedes zwischen milden und scharfen Dissonanzen, kurz: der Gleichmacherei aller Klänge.“

Arnold Mendelssohn (1855 - 1933):
„Heute erhielt ich dir 7. Nummer der Straßburger Monatsschrift mit der musikalischen Beigabe „Nur ein Schritt“. Obgleich dem Komponisten persönlich nicht bekannt, möchte ich ihm aussprechen, wie außerordentlich mir seine schöne Komposition gefällt. Hier ist warme und dabei kultivierte Empfindung, meisterliche Faktur und eine musikalische Sprache, die ohne Steifigkeit völlig gelenkig sich dem Laufe der Empfindung anpasst, dabei die Worte zu ihrem Recht kommen lässt, ohne Schädigung des Tonstroms. Ob er noch mehr degleichen hat?“
Aus: Monatsschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst, 1914

 Julius Smend (1857 - 1930):
„Die Leser werden gewiss auf dies Urteil Mendelssohns hin schnell Heft 7 noch einmal zu Hand nehmen. Das Lied stammt vom Organisten Otto Heinermann in Dortmund, einem neuen Zeugen dafür, welch ein reiches Innenleben und insbesondere welch hohe musikalische Gabe Blinden verliehen sein kann. Ich hatte jenes Lied von ihm begleiten und von seiner gleichfalls blinden Schwester singen hören und danach um die Überlassung für die Monatsschrift gebeten. Inzwischen kamen mir andere Lieder, Chorsätze, Orgelkompositionen Heinermanns zu Händen, die an künstlerischem Werte die gleiche ansehnliche Höhe behaupten, für die ich aber bisher vergeblich einen Verleger suchte. Es ist bekannt, dass Verleger (und Käufer) recht oft urteilslos und übel beraten sind. Was für ein unsäglich nichtiges Zeug kommt tagtäglich auf den Notenmarkt!“
Aus: Monatsschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst, 1914